Der Dresdner Jugendhilfeausschuss führte gestern eine ExperteInnenanhörung zur „Sicherung des Kindeswohls bei Abschiebungen durch. Offenbar betrat er damit Neuland, die Anhörung stieß bereits im Vorfeld auf bundesweites Interesse.

 

Hintergrund ist ein entsprechender Antrag mehrerer Ausschussmitglieder, die mit der Anhörung fachliche und rechtliche Hinweise für eine Konkretisierung des vorliegenden Antrags anstreben. In der bisherigen Debatte zum Antrag wurden insbesondere Schwierigkeiten in der Abstimmungen zwischen den am Abschiebeverfahren beteiligten Kommunal- und Landesbehörden deutlich, eine strukturell verankerte Mitwirkung der Jugendhilfe u. a. zur Beurteilung des Kindeswohls findet bislang nicht statt.

Für die Anhörung konnten die Fraktionen sowie die stimmberechtigen VertreterInnen der freien Träger ExpertInnen vorschlagen, die die Thematik gestern aus ihrer Perspektive beleuchteten. Prof. Dr. Ruthard Stachowske von der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit Dresden nahm zunächst eine kulturhistorische Betrachtung des Schutzes des Kindeswohl vor, das in der Mneschheit schon immer eine besondere Bedeutung hatte und nicht mit der Einführung des Paragrafen 8a im SGB VIIII erfunden wurde. Rechtliche Grundlage allen Handelns sind internationale Vereinbarungen wie die UN-Konvention über die Rechte der Kinder. Die dort verankerten Rechte und Pflichten sind in deutsches Recht aufgenommen worden und gelten uneingeschränkt. Stachowske erläuterte die so genannten Abschiebehemmnisse, die zielland- und inlandsbezogene Ursachen haben können. Diese Hemmnisse sind im Abschiebeverfahren zur erörtern und zu berücksichtigen, da keine Person in eine gefährliche Situation gebracht werden soll. Hierzu gehört beispielsweise eine Bewertung der gesundheitlichen Situation der Betroffenen sowie die Abschätzung drohender Gefahren im Zielland für die Betroffenen. Holger Keune aus der Abteilung Asyl- und Ausländerrecht der Landesdirektion Sachsen stellte die Vorgehensweise seiner Behörde bei Abschiebungen dar. Oberster Grundsatz des Handelns sei die Vermeidung von Familientrennungen. Familien mit Kindern sollen demnach nur gemeinsam abgeschoben werden, es gebe nur wenige Fälle, in denen es anders praktiziert werden musste. Im Zuge der Entscheidungsfindung nimmt die Landesbehörde Kontakt zur (kommunalen) „unteren Ausländerbehörde“ auf, um die Voraussetzungen und Bedingungen für den Vollzug einer Abschiebung zu erfragen. Gibt diese Behörde der Abschiebung statt, dann handelt die Landesbehörde mit Unterstützung der Polizei. Keune rechtfertigte die häufig kritisierten nächtlichen Abschiebungen, von denen auch Kinder betroffen sind, mit der Bindung an die Pläne der Fluggesellschaften und legte dar, dass er darin keine grundsätzliche Gefährdung des Kindeswohls sehen könne.

Dem widersprach u. a. Dr. Thomas Meysen vom „SOCLES International Centre for Socio-Legal-Studies“, der nächtliche Eingriff verursache Angstzustände bei Kindern und nehme den Kindern die Chance, Abschied zu nehmen und Erinnerungen oder wichtige Gegenstände mitzunehmen. „Die nächtliche Abschiebung von Kindern ist ein No Go“, so Meysen. Wie er weiter ausführte ist es inzwischen gesetzlich verboten, den Termin für eine Abschiebung vorher bekanntzugeben.  Er warnte vor den von der Bundesregierung geplanten so genannten „ANKER- Zentren“, bislang gibt es keine klare Rechtsgrundlage für diese Einrichtungen, in denen Zugewanderte für die Dauer des Asylverfahrens untergebracht werden sollen. Eine Unterbringung von Familien mit Kindern und Jugendlichen berge ein erhebliches Risiko. Entsprechend geltender Gesetze ist eine Unterbringung unbegleiteter ausländischer Minderjähriger in den geplanten Ankerzentren unmöglich, da hier eine eindeutige und alleinige Zuständigkeit der Jugendhilfe gegeben ist.

Rechtsanwältin Anne Nitschke stellte fest, dass eine Abschiebung von Minderjährigen nur dann möglich ist, wenn im Zielland eine geklärte Sorgerechtssituation vorliegt. Gemäß  der UN-Kinderrechtskonvention hat das Kindeswohl immer den Vorrang vor anderen Interessen, zur Umsetzung der Regelungen aus der Konvention sind die Behörden von Amts wegen und unaufgefordert verpflichtet. Gerade bei der Abschiebung ist auch eine Gefährdung des Eltern-Kind-Verhältnisses durch das Agieren der beteiligten Behörden zu vermeiden.

Thomas Berthold von „terre de home – Hilfe für Kinder in Not“ legte dar, dass etwa 45 Prozent der Zugewanderten minderjährig sind. Die Motivation der Eltern zur Flucht resultiere vorwiegend aus einem Schutzbedürfnis gegenüber den Kindern im Herkunftsland. Im Zuge der Abschiebung sei die Vermeidung weiterer Gewalterfahrungen wichtig, um die Kinder und Jugendlichen nicht erneut zu traumatisieren. Grundsätzlich sei die Jugendhilfe als parteiischer Akteur für die Interessen von Kindern und Jugendliche frühzeitig zu beteiligen, hiermit sollte insbesondere bei Familien mit minderjährigen Kindern nicht erst im Zuge des Abschiebeverfahrens begonnen werden. Berthold mahnte eine verbindliche Verfahrensregelung zur Abschiebung an, in der die möglichen und erforderlichen Aktivitäten aller relevanten Behörden festgehalten sind.

Im Ergebnis der Anhörung haben die Antragstellenden nun eine Konkretisierung und Qualifizierung ihres Antrages angekündigt, der Unterausschuss Planung wird sich erneut mit dem Antrag befassen. Im Fokus stehen dabei kommunale Handlungsmöglichkeiten, wie beispielsweise eine strukturell verankerte Mitwirkung der Jugendhilfe im Vorfeld der Abschiebeverfahren. Die kommunale Ausländerbehörde verfügt nicht über die erforderlichen Kompetenzen, eine Gefährdungseinschätzung zum Kindeswohl vorzunehmen, so dass jugendhilferechtliche Aspekte i. d. R. unberücksichtigt bleiben. Dr. Meysen mahnte jedoch ein überlegtes Handeln der Jugendhilfe an, eine kontinuierliche Mitwirkung im Abschiebeverfahren könne die Jugendhilfe auch zur „Vollstreckungshelferin“ der Ausländerbehörde machen. Er riet zu einer besonnenen Abwägung, damit die Jugendhilfe nicht von den übrigen am Verfahren beteiligten Behörden vereinnahmt oder instrumentalisiert wird.

Entsprechend den Anregungen von Prof. Stachowske und Thomas Berthold bedarf es der Erarbeitung abgestimmter und qualifizierter Regelungen für das Abschiebeverfahren. Notwendig sei eine „verlässliche Risikoabschätzung“ hinsichtlich des Kindeswohls, auch die Erarbeitung von Standards in der Zusammenarbeit relevanter Behörden sei erforderlich. Die Kommunikation und Zusammenarbeit der Behörden ist enorm ausbaufähig, letztlich gehe es auch um eine Aufklärung zu den jeweiligen Handlungsgrundlagen und –erfordernissen der einzelnen Behörden. So können durch gemeinsame und / oder gegenseitige Schulungen die Sensibilität und das Wissen der handelnden Personen aktiv gefördert werden. Wie Berthold ausführte könne als rechtliche Grundlage aus Sicht der Jugendhilfe der § 81 SGB VIII herangezogen werden, der das Jugendamt zur Zusammenarbeit mit anderen Ämtern im Rahmen seiner Zuständigkeit verpflichtet.

Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des zu Grunde liegenden Antrages darf die Anhörung als Meilenstein in der Arbeit des Dresdner Jugendhilfeausschusses bewertet werden, da sie mit hoher Fachkompetenz der beteiligten ExpertInnen zur Aufklärung und Sensibilisierung für die Handlungserfordernisse und –rahmen beigetragen hat.

 

Carsten Schöne