Titelseite des CORAX-Magazins

Titelseite des CORAX – Magazins 3-2017

(M)ein Kommentar zur geschlechtergerechten Sprachwahl

 

Ausgehend von der Annahme, dass die Sprache vom Denken geprägt ist und gleichzeitig das Denken die Sprache prägt, kann eine geschlechtersensible Wortwahl durchaus zu einer nachhaltigen Veränderung der Gesellschaft beitragen. Sprache und Kommunikation sind ohne Zweifel der Förderung von Gleichstellung zuträglich. Ob eine gendersensible Wortwahl allerdings ausreichend ist, neben Aufmerksamkeit auch grundsätzliche Veränderungen in den Haltungen von Menschen zu bewirken, bleibt zu bezweifeln.

Mit dem Text erlaube ich mir eine eher linguistische Betrachtung des Themas. Meine „Muttersprache“ und deren regelgerechte Anwendung liegen mir persönlich sehr am Herzen, auch wenn ich hinsichtlich meiner „Muttersprache“ eher die Prägung durch meinen Vater – einem Verfechter korrekter Orthografie und Grammatik – erfahren habe.

In den zurückliegenden Jahrzehnten etablierten sich nach und nach unterschiedlichste Schreibweisen, von denen offenbar das große „Binnen-I“ die längste Anwendungsdauer und bis vor kurzem die größte Akzeptanz für sich verbuchen konnte. Gelang es doch mit dieser Schreibweise Frauen und Männer mit nur einem Wort gleichermaßen zu nennen oder anzusprechen. Eine sukzessive Abkehr von dieser Form, über die Klammerschreibweise hin zu Schrägstrich – Bindestrich – Kombinationen als Verknüpfung zwischen maskuliner und femininer Bezeichnungen ist inzwischen vom Unterstrich und einem hochgestellten Stern überholt worden. Menschen, die sich von den Geschlechterstereotypen „weiblich“ und „männlich“ nicht repräsentiert fühlen, sollen auf diese Weise Berücksichtigung finden.

Die deutsche Sprache bietet eine große Vielfalt, die es auch im Sinne der Gleichstellung auszuschöpfen gilt. Das so genannte „Dudenkorpus“, eine Sammlung der bislang bekannten deutschen Wörter, beinhaltet etwa 9 Millionen Einträge. Im „Duden“ sind etwa 140.000 Wörter zu finden, während das von den Brüdern Grimm angelegte und bis 1971 gepflegte „Deutsche Wörterbuch“ etwa 450.000 Wörter enthält. Zu Grimms Lebzeiten wurden Schankhäuser auch noch von „Gästinnen“ besucht, eine Bezeichnung, die wohl auch deshalb aus Sprachgebrauch und Regelwerk verschwand, weil es Zeiten gab, in denen der Besuch von Wirthäusern eine Männerdomäne war. Mit Blick auf unsere gastronomische Gegenwart wird es also Zeit, die „Gästin“ aus dem Grimmschen Archiv heraus zu holen. Demgegenüber finden sich bislang keine „Mitgliederinnen“ in den Verzeichnissen, obwohl diese immer wieder zu Vereins- oder Parteiveranstaltungen eingeladen werden.

Sehr charmant, wertschätzend und rücksichtsvoll ist die Verwendung geschlechterneutraler Formulierungen, die die feminine oder maskuline Wortwahl nur dann bemüht, wenn konkrete Personen angesprochen oder genannt werden sollen. Mit Blick auf die Wortbedeutung lauert allerdings auch hier die Tücke: die Verwendung von Begriffen wie „Zuhörende“, „Mitarbeitende“ oder „Studierende“ unterstellt mitunter Aktivitäten, die nur im Moment der Ausübung der beschriebenen Tätigkeit gegeben sind. Ausgehend von den Begriffen „Studierende“ und „Auszubildende“ wird den Menschen an Hochschulen wesentlich mehr Selbständigkeit zugewiesen, als jungen Menschen, die sich in einer Berufsausbildung befinden, da letztere „auszubilden“ sind. Als Trost bleibt den „Azubis“ vielleicht, dass es sich bei „studieren“ um ein „schwaches Verb“ handelt. Etwas irritiert war ich neulich von der Begegnung mit „Sozialarbeitenden“ in einem Fachtext, tröstete mich dann aber mit der Hoffnung, dass es sich um „sozial Arbeitende“ handeln könnte, also Menschen, die mit ihrer Arbeit gutes für die Gesellschaft tun.

Die Aktivitäten zur sprachlichen Gleichstellung sollten mit einer Wertschätzung und Pflege der deutschen Sprache einhergehen, schließlich gibt sie uns unzählige Möglichkeiten für eine geschlechtersensible Wortwahl. Beim Lesen eines Buches, Aufsatzes oder Artikels möchte ich mich auf den Inhalt konzentrieren können und nicht von Gleichstellungsappellen in Form grafischer Elemente in Texten unterbrochen werden. Daher, liebe Leserin, lieber Leser und liebe Rezipierende, nehmen Sie sich die Zeit, vor der Verwendung grafischer Sonderzeichen, alternative, geschlechtersensible, geschlechterneutrale, geschlechterbetonende und dennoch zum Lesen einladende Formulierungen zu finden. Die individuelle Ansprache der Menschen in Texten verursacht zwar einen höheren Schreibaufwand, steigert aber letztlich den Umsatz des druckenden Gewerbes, welcher sich durch erhöhten Papierverbrauch allerdings wieder nachteilig auf die Umwelt auswirkt. Insofern endet eine tatsächlich nachhaltige Betrachtung des Themenkomplexes nicht beim Respekt vor Geschlechteridentität, sondern erfordert die Einbeziehung weiterer Dimensionen, die – jede für sich betrachtet – keine geringere Aufmerksamkeit verdienen.

Carsten Schöne

Der Kommentar erschien in CORAX – Fachmagazin für Kinder- und Jugendarbeit, Ausgabe 03/2017 ( ISSN 1860–9910), Einzelheft oder Abo zu beziehen unter www.corax-magazin.de